Psychologische Hintergründe

Der Psychoanalytiker Arno Grün hat sich eingehend mit der Frage befasst, warum Menschen ihre Empathiefähigkeit verlieren und aus Überzeugung Gewalt anwenden.

Bis heute gehen viele Menschen davon aus, dass ein Kind erst geformt werden müsse, bevor es zu einem guten Mitglied der Gesellschaft wird. Kindern werden ihre scheinbar schlechten Triebe aberzogen. Wenn sie von der Gesellschaft verpönte Gefühle wie Übermut, Aggression, Wut, Trauer, Angst und Selbstmitleid zeigen, werden sie aber dafür bestraft oder getadelt.

Zwar hat sich mittlerweile die Überzeugung durchgesetzt, dass körperliche Gewalt keine adäquate Form der Erziehung ist, aber das Zufügen seelischer Schmerzen wie Liebesentzug ist nach wie vor verbreitet. Auch Strafen oder sogenannt logische Konsequenzen sollen dazu führen, dass das Kind Gehorsam lernt. Das funktioniert auch sehr gut. Denn: "Wenn ein Kind, von demjenigen, der es schützen sollte, körperlich und/oder seelisch überwältigt wird und das Kind zu niemandem fliehen kann, wird es von Angst überwältigt", so Grün in seinem Buch "Wider den Gehorsam". Der Preis ist jedoch, dass es dafür seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse unterdrücken muss, um jenen zu gefallen, von denen es abhängig ist. Verloren geht dabei das Urvertrauen.

Als Jugendliche oder junge Erwachsene werden diese Kinder alles dafür tun, diese überwältigende Angst abzuspalten. Menschen, denen diese innere Sicherheit fehlt, suchen sie im Aussen: In festen Strukturen, in Vorhersehbarkeit, im Bestehen auf gesellschaftlichen Regeln. Fallen diese äusseren Strukturen weg, flammt das alte Gefühl der Angst wieder auf. Der Mensch will diese Angst jedoch nicht spüren. Um ihr Herr zu werden, wird er wütend auf jene, die vermeintlich die Schuld am Zerfall der äusseren Strukturen tragen: Politiker, Ausländer, Moslems, Juden, Christen, Andersdenkende. Werden sie nun nicht ernstgenommen, lächerlich gemacht oder erneut für ihre Gefühle verurteilt, verfestigt sich ihr Hass.

Dieser Entwicklung ist nur entgegenzutreten, indem man Menschen bereits im Babyalter wahr- und ernstnimmt, ein Weinen nicht zum "Protestieren" oder "Meckern" degradiert, sondern als Ausdruck eines ungestillten Bedürfnisses erkennt. Zum Mitgefühl erzieht man ein Kind nicht über Gehorsam, sondern indem man seine Gefühle anerkennt, benennt und dem Kind hilft, sie zu bewältigen. Auf diese Weise bleibt das Kind mit seinem Selbst verbunden.